Jessas Na
Es lebe der Zentralfriedhof! Die Szene wirkt makaber...
...und doch hat Wolfgang Ambros mit seinem Lied wohl den Nerv jener Wiener Seele getroffen, die "auf Du" mit der Urangst menschlicher Existenz zu sein scheint. Seit jeher schwebt über dieser Stadt ein Geist, der den Volksmund wie Künstler gleichermaßen zur Beschäftigung mit den "letzten Dingen" inspiriert hat.
Einer abnorm großen Vielfalt an Wiener Dialektausdrücken für das Sterben, die auch als Verharmlosung dessen verstanden werden können, stehen erschütternde Meisterwerke immanenter Todesahnung von Komponisten wie Mozart, Schubert oder Mahler gegenüber. Ein Verwandter der schwarzen Wiener Mentalität eines Helmut Qualtinger ("In Wien muasst erst sterben, damit's di hochleben lassen, aber dann lebst lang.") oder Georg Kreislers ("Der Tod, das muss ein Wiener sein") war auch der Pianist und Komponist Friedrich Gulda. Sein inszeniertes, aktionistisches Spiel mit dem eigenen Ableben bildete den jüngsten Höhepunkt dieses schwarzen Wiener Humors.
Friedrich Gulda war es auch, der dem traditionellen Wienerlied in den 60er Jahren neuen Atem einhauchte, und so als einer der ersten wesentlichen Anteil für das bis heute anhaltende Revival des Wienerlieds hatte. Mit seinem Pseudonym "Golowin" verkörperte Gulda einen "Blues-Sänger im Geiste Ottakrings" und verband die Wiener Musik in kunstvoller Weise mit dem Jazzidiom.
In "Jessas Ja - G'schichten vom Spittelberg" - einer Auftragskomposition des CrossNova Ensembles - illustriert Mathias Rüegg morbide Stimmungsbilder auf melancholisch grantelnde Texte, wie sie typischer für Wien nicht sein könnten.
Roland Neuwirth, der sich selbst als eine Art letzter Saurier der Gattung Wienerlied sieht, versteht wie kaum ein anderer, das raunzend-aggressive Timbre der "Eingeborenen" in Liedform zu gießen.
Mit einer barock anmutenden Partita über ausgewählte Lieder aus Neuwirths umfassenden Oeuvre schrieb Michael Radanovics dem CrossNova Ensemble ein teils "schrammelndes", teils grooviges und zugleich urwienerisches Werk auf den Leib.
Inhaltlich wie musikalisch ist es von hier aus nur mehr ein kurzer Weg zu Ambros' Zentralfriedhof. Dieser Friedhof Wiens - eine der populärsten Sehenswürdigkeiten der Stadt - ist zwar nur halb so groß wie Zürich, angeblich aber mindestens doppelt so lustig.
Mit Werken - die gleichermaßen dem Idiom wienerischer als auch den verschiedenen Spielformen zeitgenössischer Musik verhaftet sind - greift das CrossNova Ensemble diese seltsame Tradition neu auf und macht das dunkle Wien abseits hochstilisierter, kommerzieller Klischeebilder hörbar.
Hörbeispiele, Video
Bis der Kanari von sein Sprissl fällt (Roland Neuwirth)*
Unserana im Nirvana (Roland Neuwirth)*
Wann i geh' (Friedrich Gulda)*
Jessas Na (Mathias Rüegg)
*live @ Wiener Konzerthaus, Mai 2010